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Jean-Charles Fays / Mounia Meiborg „Bremen hinter dem Schleier

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

REPORTAGE ÜBER EIN UMSTRITTENES KLEIDUNGSSTÜCK: UNSERE MITARBEITERIN HAT EINEN TAG IN EINER BURKA GELEBT: WIE SIE DAMIT ZURECHT GEKOMMEN IST UND WIE DIE UMWELT REAGIERTE

Bremen hinter dem Schleier

Mein Kopf ist einfach zu groß. Nicht annähernd passt er in das bestickte Kopfstück der Burka hinein. Der Stoff rutscht nach oben weg, das Gitter, das den Augen als Sichtfenster dienen soll, klebt auf meinen Haaren. Ich stehe im Büro eines Kollegen, der die kornblumenblaue Burka von seiner letzten Afghanistanreise mitgebracht hat, und weiß, ohne mich selbst sehen zu können, dass ich einen verstörenden Anblick abgebe. Da sind sie, die ersten Zweifel: Was tue ich hier eigentlich? Verletze ich mit meiner Verkleidung religiöse Gefühle? Und ist es journalistisch korrekt, Situationen nicht zu beobachten, sondern selbst herzustellen? Das zu enge Kopfteil lassen wir umnähen, die Zweifel bleiben.


Von Mounia Meiborg, Weser-Kurier, 11.06.2010


Mit einer Burka bekleidet will ich einen Tag lang durch die Stadt laufen. Ich will wissen, wie die weltoffenen Bremer auf eine voll verschleierte Frau reagieren. Und wie es sich anfühlt, das umstrittenste Kleidungsstück Europas zu tragen. Ein Gewand, für das Gesetze geschneidert werden, ein Stoffstück, das wenige Frauen tragen, über das aber viele Menschen reden: Politiker, Bürger, Verfassungsrechtler. In Belgien hat das Parlament gerade das Tragen von Burkas in der Öffentlichkeit verboten. Frankreich wird bald folgen, Italien und die Niederlande könnten nachziehen. In Deutschland fordert die FDP-Politikerin und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Silvana Koch- Mehrin, ein Verbot der Burka, die sie ein „mobiles Gefängnis“ nennt.

Beim Blick in den Spiegel sehe ich eine Silhouette meiner selbst; sie verrät nur die Körpergröße, verdeckt aber das Gesicht und verhüllt die Figur. Da das Gewand vorne bis zur Hüfte ausgeschnitten ist, muss ich es zusammenhalten, um meine Jeansbeine zu verdecken. Die Hände stecken im Polyesterstoff, ich kann sie nicht frei bewegen.

Die ersten Schritte, von der Fußgängerzone zum Bahnhof, fühlen sich an, als würde ich das Gehen neu erlernen. Ich laufe langsam, bei der ersten höheren Stufe trete ich prompt auf den Saum. Durch das Gitter sehe ich überraschend gut; da ist zwar ein blauer Schleier, aber ich kann alles klar erkennen. Zumindest alles, was direkt vor mir liegt. Denn mein Sichtfeld ist beschränkt – was ich sonst aus den Augenwinkeln wahrnehme, überholende Passanten, Geschäftsschilder, Straßenbahnen, ist jetzt unsichtbar. Ständig habe ich das Gefühl, dass jemand neben mir steht, aber wenn ich den Kopf wende, ist da niemand.

In Frankreich hat die Künstlerin Bérangère Lefranc einen Monat lang Burka getragen; in ihrem Buch „Der Schleier – ein bestimmtes Ich im Juni“ beschreibt sie ihre Erlebnisse: Beschimpfungen, Demütigungen, Pöbeleien. Ich bin also auf das Schlimmste gefasst. Stattdessen passiert erst einmal: gar nichts.

Die meisten Passanten reagieren an diesem sonnigen Tag erstaunlich entspannt auf eine voll verschleierte Frau. Manche schauen kurz hin und dann schnell wieder weg, andere mustern mich irritiert, einige feindselig. Die Bremer Innenstadt ist eben nicht die Pariser Banlieue. Wir wollen einen Querschnitt der Stadt erleben und steigen am Bahnhof in die Linie 1 Richtung Osterholz.

Ich bleibe an der Tür stehen und halte mich an der Stange fest. In einem Straßenbahnabteil, das Menschen auf engem Raum zu einer Zufallsgemeinschaft auf Zeit zusammenpfercht, um sie zehn, zwanzig oder dreißig Minuten später an ihrem Ziel wieder auszuspucken, ist die Spannung größer als auf der Straße. Meine Hand schwitzt, der Stoff rutscht, ich verkrampfe. Ich denke daran dass unter meinem Gewand genug Platz wäre für Waffen oder Sprengstoff oder für jemanden, der in dieser Verkleidung aus dem Gefängnis ausbricht. Und ich frage mich, ob meine Mitfahrer dieselben Gedanken haben.

Zum Beispiel die gepflegte weißhaarige Dame, die Am Dobben einsteigt, sich mir schräg gegenüber setzt und mich so intensiv anschaut, als wolle sie in meinen Kopf hineinblicken. In Russland haben sich schon öfter radikalislamische Frauen in langen Gewändern, schwarze Witwen genannt, in U-Bahnen in die Luft gesprengt.Und inGroßbritannien hat kürzlich ein Krimineller, verkleidet mit einer Burka, einen Juwelier ausgeraubt.

Seitdem diskutiert auch das in Religionsfragen so tolerante Großbritannien, dessen Polizisten Kopftuch und Turban tragen dürfen, über ein Burka-Verbot. Die Vollverschleierung, die schon mehrfach zum Missbrauch verführt hat, macht Angst. Das ist verständlich.

Aber darf man sie deshalb abschaffen? In Deutschland verbietet seit 1985 ein Gesetz den Teilnehmern von Demonstrationen, sich zu vermummen. Derzeit fallen Burka und Niqab, das meist schwarze Gewand mit Sehschlitz, das vor allem auf der Arabischen Halbinsel getragen wird, nicht unter dieses Verbot. Über die Anzahl der voll verschleierten Frauen in Deutschland gibt es nur Schätzungen; sie reichen von 100 bis etwa 1000. Innenminister Thomas de Maizière hält die Verbotsforderungen von Koch- Mehrin für unnötig. Die Mehrheit der Deutschen sieht das offenbar anders: Rund 52 Prozent, so eine Umfrage der „Frankfurter Rundschau“, sind für ein Verbot der Vollverschleierung.

Endstation Zürcher Straße. Die weißhaarige Dame wirft mir einen letzten eindringlichen Blick zu, bevor sie aussteigt. Inzwischen ist es Mittagszeit, die Sonne brennt, wir haben Hunger. Zur Auswahl stehen zwei Dönerbuden und ein Brathähnchenimbiss. Beides kommt für mich nicht infrage; mit dem Tuch vor dem Mund kann ich nicht in der Öffentlichkeit essen, ebenso wenig trinken. Ich gehe in den Supermarkt. Die Waren könnte ich bequem unter dem Gewand verstecken, überlege ich, und vermutlich würde sich niemand trauen, mich zu durchsuchen. Wieder einmal frage ich mich, wie sich eine Frau, die Burka trägt, eigentlich verhält. Dass sie im Sitzen wohl nicht die Beine übereinander schlagen würde, weil sich dann die Figur abzeichnet.

Und welches Verhalten andere, Passanten, Straßenbahnfahrer, Verkäufer, von ihr erwarten. Kauft eine Burka tragende Frau Schokoriegel? Die Kassiererin bleibt jedenfalls gelassen und wünscht mir, wie all ihren Kunden, einen schönen Tag. Weiter in die angegliederte Bäckerei. Die Theke ist um diese Zeit schon ziemlich leer, nur Mettbrötchen sind übrig. Ich frage die Verkäuferin, ob sie auch etwas anderes hat.

Ach ja, mit Pute?“ fragt sie. Es ist ihre Art zu sagen: ohne Schweinefleisch. Wie so viele Menschen heute glaubt sie, etwas über mich zu wissen, von meinem Anblick auf meine Essgewohnheiten schließen zu können. Ich kann es ihr nicht verübeln, schließlich bin ich diejenige, die sich verkleidet hat. Geduldig schmiert sie mir ein Käsebrötchen, fragt ob Gurke und Tomate mit drauf dürfen, und ich bilde mir ein, dass sie mit jedem akzentfreien deutschen Wort, das ich spreche, ein bisschen mehr Vertrauen gewinnt. Mein Lächeln kann sie nicht sehen, deshalb versuche ich, meiner Stimme einen besonders freundlichen Klang zu geben. Es gerät etwas künstlich.

Wir ziehen uns in eine Seitenstraße zurück. Ich esse unter dem Gewand, ziemlich umständlich, ziemlich unelegant. Wie machen das Frauen, die Burka tragen? So jedenfalls nicht. Gegessen und getrunken wird normalerweise zu Hause. Die meisten Niqabs jedoch haben ein extra Tuch über dem Mund, das die Trägerin in der Öffentlichkeit abnehmen kann. Praktisch, wie ich finde. Als nächstes möchte ich in die Moschee, die ich auf der anderen Straßenseite gesehen habe. Kurz nach dem Mittagsgebet ist sie ausgestorben.

DerMann vomEingang führt mich in den Gebetsraum für Frauen, er ist freundlich, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er meine Verkleidung durchschaut. Wahrscheinlich trägt hier sonst niemand Burka. Oder niemand Burka zu Turnschuhen. Inmitten von Kinderbildern, Koranversen und Rosendekorationen fallen mir die zwei Suren ein, die als Grundlage für die Verschleierung der Frau gelten.

Reize und sozialen Status verbergen

Da heißt es in Sure 24,31: „Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke niederschlagen und ihre Scham hüten und dass sie nicht ihre Reize zur Schau tragen, es sei denn, was außen ist, und dass sie ihren Schleier über ihren Busen schlagen.“ Ob der Schleier den gesamten Oberkörper, das Haar oder außerdem das Gesicht bedecken soll, bleibt allein der Interpretation des Lesers vorbehalten.

Ähnlich vage heißt es in Sure 33,59: „O Prophet, sprich zu deinen Gattinnen und zu deinen Töchtern und den Weibern der Gläubigen, dass sie sich in ihren Überwurf verhüllen. So werden sie eher erkannt als anständige Frauen und werden nicht verletzt.“ Die meisten Islamgelehrten, auch die konservativen, sehen die Vollverschleierung heute nicht mehr als theologische Notwendigkeit.

So vielfältig wie die Strömungen des Islam und die kulturellen Eigenheiten der Regionen sind auch die Kleidungen gläubiger Frauen. Da ist die Burka, vor allemin Nordafghanistan getragen und unter den Taliban Pflicht für jede Frau; als Stammestracht sollte sie ursprünglich nicht nur die Reize der Frau verbergen, sondern auch ihren sozialen Status.

Da ist der iranische Tschador, ein schwarzes Gewand mit Kopftuch, das das Gesicht freilässt; es wurde mit der islamischen Revolution zum Politikum. Und da ist der Hijab, ein eng gebundenes Kopftuch, das junge Musliminnen zum Symbol eines selbstbewussten Euro-Islam erklärten; auch hier in Osterholz ist es oft zu sehen. Als ich wieder ins Freie trete, geht Wind. Kühlend weht er durch den dünnen Stoff. Plötzlich bekommt dieses Kleidungsstück, das kein Kilo wiegt und so bedeutungsschwer ist, ein wenig Leichtigkeit.

Selten war ein Stück Stoff politisch so aufgeladen, die deutschen Reaktionen auf die ersten Miniröcke in den 60er-Jahren waren harmlos dagegen.Das Zeigen der Beine schockierte damals weniger als heute das Verhüllen des Gesichts. Vergleichbar in ihrer Symbolwirkung ist die Burka-Debatte nur mit dem Kopftuch-Streit, der, von einer muslimischen Lehrerin ausgelöst, im Jahr 2004 bis vor das Bundesverfassungsgericht ging. In beiden Diskussionen dienen die weiblichen Kleidungsstücke als Stellvertreter: für eine gescheiterte Integration, einen radikalen Islam, der Frauen unterdrückt und überhaupt alles, was fremd ist.

Das erklärt die Vehemenz, mit der die Debatte um ein Burka-Verbot in Belgien und Frankreich über Parteigrenzen hinweg geführt wird – und die in einemgrotesken Missverhältnis steht zu den einigen Hundert Frauen, die jeweils betroffen sind. In Belgien ist die Regierung von Yves Leterme amSprachenstreit zerbrochen, in Frankreich ist Präsident Nicolas Sarkozy nach dem Debakel bei den Regionalwahlen ins Straucheln geraten. Einigkeit verspricht in derartigen innerstaatlichen Krisen eine Politik auf Kosten von Minderheiten.

Schockierender Anblick

Wir fahren zurück in Richtung Stadtmitte. Ich bin jetzt schon routiniert, trete beim Hinsetzen nicht mehr auf den Saum und finde gleich auf Anhieb den Halteknopf. Wieder überrascht mich, dass ich in einer Sekunde angestarrte Zielscheibe, in der nächsten unsichtbare Freifläche bin. In der Innenstadt, wo amspäten Nachmittag Menschen mit Einkaufstüten über die Obernstraße flanieren, scheint mein Anblick viele zu schockieren: finstere Blicke, Getuschel, abfällige Kommentare.

Eine Frau ruft mir ins Gesicht: „In Belgien haben sie es verboten und hier laufen die noch so rum!“ Der Satz klingt wie eine Zusammenfassung der europäischen Burka-Diskussionen: Statt mit den Frauen redet man über sie. Kein Wunder, denn mit der Mimik und Gestik verlieren sie in der Öffentlichkeit ihre Stimme. Auch die Burka tragenden Frauen, die ich im Vorfeld angesprochen habe, sind stumm weitergegangen. Deswegen der Selbstversuch.

Auf dem Marktplatz schließlich nehme ich die Burka ab. Die Sonne scheint plötzlich viel intensiver, der Himmel ist blau und ohne Raster. Zwischen den gotischen Häuserfassaden wirkt das Gewand in meiner Hand wie ein Accessoire für eine Kostümparty. Bei Starbucks fragt mich eine junge Frau, ob sie die Burka auch mal aufziehen darf. Klar, sage ich, und reiche ihr den blauen Stoff.


So, wie die da steht, kriegen die Menschen Angst“

Wie unser Mitarbeiter das Burka-Experiment erlebt hat

V O N J E A N - C H A R L E S F A Y S

Bremen. Als Mounia die Burka überzieht, zucke ich zusammen. Der Ganzkörperschleier verhüllt alles,was sie lebendig macht: Die filigranen Gesichtskonturen, das coole Ohrenpiercing, die naturgebräunte Haut, das ungebändigt wilde schwarze Haar und die Konturen ihres Körpers. Selbst die tiefbraun funkelnden Augen der aufgeweckten 25-Jährigen wirken durch das Sichtvisier wie matte schwarze Steine.

Erst als sie fragt: „Und, wie sehe ich aus?“, lässt der Schreck nach. Wenn sie spricht, weiche ich dem Blick der Deutsch-Marokkanerin aus, denn so bleibt sie für mich die vertraute Mounia. Steht sie aber stumm neben mir, bekomme ich Gänsehaut. Ihre Anwesenheit ist dann nicht mehr zu spüren. Kalte Schauer laufen mir über den Rücken, wenn sie sich nach Minuten des Schweigens wie aus dem Nichts zu Wort meldet. Es ist, als raube ihr die Burka die Lebensgeister. Als verschleiere sie ihre Identität. Als verwandle sie Mounia zum Gespenst.

Ich bin nicht der Einzige, der so fühlt. Bei unserer sechsstündigen Reise durch Bremen ähneln sich die Reaktionen. Unterschiedlich ist nur, wie intensiv die Bremer diese nach außen tragen. Der Erste, der sich über die Burka äußert, ist ein Mittsiebziger vor McDonald's an der Domsheide. Als er mit seiner Frau im Arm an uns vorbeiläuft, schüttelt er stirnrunzelnd den Kopf. Was geht jetzt wohl in ihm vor? Ist er nur erschrocken? „Nein, ich finde so ein Ganzkörperkondom einfach nur beschämend“, schimpft er. „Ich bin taub und da muss ich einem Menschen auf den Mund gucken. Das kann ich bei ihr nicht.“

Na, also ist das denn zu fassen!?!“

In der Bahn zum Hauptbahnhof fragt das Mädchen neben Mounia ihre Mutter: „Was ist das?“ – und zeigt ungeniert auf ihre Sitznachbarin. Die Mutter flüstert ihr etwas ins Ohr, was die Neugier der Kleinen stillt und das blaue Gespenst neben ihr für den Rest der Fahrt unsichtbar werden lässt.

Als Mounia drei Stationen später aus der Linie 4 gen Schwachhausen aussteigt, empört sich eine aufwendig geschminkte Mittfünfzigerin beim Einsteigen: „Na, also ist das denn zu fassen!?!“ Das Gespenst scheint sie offenbar erschreckt und einen Moment lang aus der Fassung gebracht zu haben – was sie sich aber nur ungern eingesteht. Auf die Nachfrage: „Was ist denn zu fassen?“, antwortet sie immer noch aufgebracht: „Was erlauben Sie sich? Mit Ihnen rede ich doch gar nicht.“ Während sich die Dame auf dem Weg gen Schwachhausen wieder von ihrem Schreck erholen kann, setzen wir unsere Reise nach Osterholz fort. Wie wohl die Menschen aus den verschiedenen Kulturen in Bremens Schmelztiegel auf die Burka reagieren? Als wir in die Linie 1 einsteigen, deutet ein türkisch aussehender Mann mit dem Finger auf Mounia und tuschelt dem Landmann neben ihm etwas ins Ohr. Sein Blick wirkt bedrohlich. Die zusammengekniffenen Augenbrauen lassen erahnen, dass ihm die Burka nicht gefällt.

Argwöhnisch beäugt sie auch eine andere Muslimin in der Bahn. Die gebürtige Jordanierin erklärt, dass Frauen wie Mounia ein schlechtes Licht auf Muslime wie sie werfen. Sie sieht aus wie Mounias muslimischer Gegenentwurf.

Ihr Kopftuch ist knallbunt. Ihre braunen Augen stechen hervor und leuchten nicht minder als ihr Kopftuch. Nicht zuletzt dank Kayal und Wimperntusche. Die 24-Jährige sagt: „So, wie die da an der Tür steht, kriegen die Menschen Angst. Man könnte meinen, die hat ein Bombenattentat vor.“ Die in Osterholz-Tenever lebende Hausfrau findet: „Das Gesicht muss man schon zeigen.“ Ähnlich skeptisch mustert ein Russe Mounia von oben bis unten, runzelt die Stirn und sagt: „Mir gefällt das nicht. Sie lebt in einem christlichen Land. Also muss sie sich diesen Sitten auch anpassen.“ Vor elf Jahren ist der 69-Jährige ausgewandert. Er glaubt: „In Sibirien würde es niemand wagen, so herumzulaufen.“ Zwei atheistische Landsmänner, die nur zwei Meter von Mounia entfernt sitzen, sind da entspannter. Obwohl die beiden viel dichter als alle anderen bei Mounia sitzen, nehmen sie am wenigsten Anstoß an ihr und sagen: „Jeder soll doch machen, was er will. Uns ist das ganz egal.“

Frauen in seiner Familie tragen Burka

Das denken sich auch die meisten Menschen an der Endstation Züricher Straße. Wie an den Kopftüchern deutlich zu erkennen, ist hier mindestens jede zweite Frau muslimischen Glaubens. Selbst die Deutsche Post übersetzt hier den Namen ihres Restposten- Marktes auf türkisch. Auf der Querstraße, nur einen Steinwurf hinter der Post, liegt die Mescidi Aksa Moschee, die der vom Verfassungsschutz beobachteten islamischen Gemeinde Milli Görrüs angehört.

Einer, der vorgibt, dort seit mehreren Jahren zu beten, ist ein Aserbaidschaner. In Deutschland fühlt er sich nicht wohl. Er sagt: „Ich hasse Deutschland.“ An Mounias Burka findet er hingegen großen Gefallen. Zunächst traut er sich gar nicht, sie anzugucken.

Als ich aber erkläre, nicht ihr Mann zu sein, wirft er einen flüchtigen Blick rüber und sagt: „Amliebsten wäre mir, meine Frau würde das auch anziehen.“ In seinem Heimatland tragen sowohl seine Mutter als auch seine Schwestern Burka. Seine evangelische Frau, mit der er aus Russland emigrierte, konnte er aber nicht für die Burka begeistern. Als ein Türke einmal zu ihr sagte: „Schöner Arsch“, ist der Aserbaidschaner ausgerastet.

Er erzählt, dass er den Türken daraufhin verprügelt und dafür eine Woche im Gefängnis gesessen habe. „Hätte meine Frau damals eine Burka getragen, hätte der Türke den ,schönen Arsch' meiner Frau aber gar nicht gesehen und so was nicht sagen können“, sagt der 40-Jährige. Noch immer ist er überzeugt, damals imRecht gewesen zu sein.

Im Koran steht, dass nur der Mann die Frau ohne Burka sehen darf.“ Das sei zwar nicht der genaue Wortlaut, aber durchaus so zu interpretieren. Schließlich gehöre seine Frau mit all ihren Reizen nur ihm.

Hier ist das nichts Besonderes“

Den Aserbaidschaner würde es stolz machen, wenn seine Frau so einkaufen ginge wie Mounia. Denn als Mounia sich in einem nahegelegenen Supermarkt Äpfel und Schokoladenriegel kauft, wird sie vollkommen ignoriert. Lediglich die Kassiererin guckt etwas verwundert wegen ihrer akzentfreien deutschen Aussprache. Später sagt die Mittvierzigerin über die Verschleierung: „Hier ist das nichts Besonderes.“ Auch andere Frauen würden hier mit Kopftüchern oder dem Gesichtsschleier „Niqab“ einkaufen. Die deutsche Kassiererin würde sich selbst zwar nie verschleiern, aber sie stört das nicht: „Jeder soll seine Religion leben, wie er es möchte.“ Mounia zieht sich in eine Seitenstraße zurück.

Beim Essen möchte sie nicht beobachtet werden. In einer schattenspendenden Ecke versucht sie den Schokoladenriegel zumMund zu führen. Sie muss mehrere Male ansetzen und wirkt etwas unbeholfen, wie sie den Riegel unter dem Schleier zumMund führt. Sie fragt: „Wie machen das bloß Frauen, die Burka tragen?“ Ich antworte: „Das ist wahrscheinlich alles eine Frage der Routine – aber zieh die Burka doch zum Essen aus.“ Sie weigert sich. Es wäre ihr unangenehm, wenn die Osterholzer sie dabei ertappen würden, denn das würde eine Frau, die Burka trägt, nie tun.

Nachdem Mounia in zehn Minuten etwa anderthalb Riegel essen konnte, versucht sie sich gar nicht erst an den Äpfeln. Wir gehen zurück zur Bahnhaltestelle. In der Linie 1 sitzt Amir Frayhar neben uns. Der Deutsch- Syrer arbeitet in einer Bremer IT-Firma und ist gläubiger Muslim. Meine Begleiterin anzugucken, wagt der 24-Jährige nicht. „Dazu ist der Respekt zu groß.“ Er kennt das von vielen Burka tragenden Frauen in seinem Heimatland. Da sei es Gepflogenheit, diesen Menschen nicht ins Gesicht zu gucken.

Wenn man eine Burka trägt, hat man keine Persönlichkeit gegenüber anderen. IhreMänner denken: ,Sie gehört mir allein.’“ Obwohl Frayhar sich als gläubig bezeichnet und fünf Mal am Tag betet, denkt er anders. Seine muslimische Freundin muss hier weder Burka noch Kopftuch tragen, obwohl sie sich noch in ihrer Heimat in Marokko verschleiern musste. „Wenn man hier in Deutschland arbeitet, geht das nicht.Da mussman sich einfach anpassen“, sagt der 24-Jährige. Frayhar genießt die Religionsfreiheit in Deutschland. „Es wäre nicht gut, wenn man hier – so wie in Belgien – die Burka verbieten würde.

Frauen, die Burka tragen, würden dann nur noch zu Hause bleiben.“ AmBrill steigen wir aus. Hier in der Innenstadt zieht Mounia eine viel größere Aufmerksamkeit auf sich als in Osterholz. Eine Betrunkene lallt: „Guck dir mal die Mumie an!“ Ein Junge, der an der Hand seiner Mutter läuft, fragt: „Was ist das denn?“ Die Mittvierzigerin antwortet: „Das tragen viele muslimische Frauen. Das ist dort Tradition.“ Auf der Obernstraße stellt ein Iraner jedoch klar, dass das in seinem Heimatland durchaus keine Tradition ist. „Was soll denn das? Ich bin auch Muslim und meine Frau trägt trotzdem keine Burka. Im Koran steht nirgendwo, dass Frauen das sollen.“ Derselben Meinung scheinen auch südländisch aussehende Männer vor Karstadt zu sein, die Mounia von oben bis unten mustern. Auch der Spaziergang über die Sögestraße muss Mounia vorkommen wie ein Spießrutenlauf. Während jugendliche deutsche Mädchen sich nach ihr umdrehen und sie auslachen, blicken ihr junge Mütter mit finsterer Miene hinterher und ärgern sich, wie eine Frau sich so ihrer Persönlichkeitsrechte berauben lassen kann.

Als Mounia eine Viertelstunde später im Starbucks am Marktplatz ihre Burka auszieht, sind ihre Haare von der Hitze unter dem Ganzkörperschleier nassgeschwitzt. Die Erleichterung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie strahlt und ist glücklich, dass die Tortur endlich ein Ende hat. Bei einem Kaffee schaut sie wie von einer Zentnerlast befreit in die Nachmittagssonne und resümiert: „Es kam mir vor wie auf einer Kostümparty – allerdings als Einzige verkleidet.“



Die Burka – In Belgien und Kanda verboten

Die Burka ist ein sackartiges, zumeist blaues Gewand, das die Konturen der Trägerin verwischt und keinen Blick auf ihr Gesicht oder ihre Haare zulässt. Die Frau sieht selbst auch nicht viel, da die etwa handgroße Aussparung für die Augen auch noch von einem Stoffgitter bedeckt ist. Um etwas schärfer sehen zu können, ziehen Burka-Trägerinnen den Stoff manchmal mit ihren Zähnen näher zum Gesicht. Unter der Burka wird ein langes Hemd getragen.

Die Beine stecken zumeist in langen, weiten Hosen. Die Schuhe sind grundsätzlich flache und weiche – nicht einmal die Schritte der Frau sollen von Umstehenden wahrgenommen werden. Bis auf ihre Stimme, Körpergröße und -haltung verliert die Trägerin unter der Burka sämtliche individuellen Merkmale. Die Burka ist hinten fast bodenlang, vorn aber etwa bis zur Höhe der Oberschenkel halbrund ausgeschnitten, damit die Trägerin ihre Arme und Hände überhaupt benutzen kann. Wenn Burka-Trägrinnen in der Öffentlichkeit essen – etwa auf einem Markt – geht das nur in der Hocke oder im Schneidersitz: Die Burka wird vorne mit der linken Hand zusammengerafft und umfängt den Körper dann wie ein Zelt; das Essen wird darunter mit der rechten Hand zum Mund geführt.

Die Burka gilt gemeinhin als das Kleidungsstück, in dem sich islamischer Fundamentalismus am auffälligsten ausdrückt. Dabei ist unter Muslimen sehr umstritten, ob irgendeine Koran-Sure das Tragen der Burka nahelegen könnte. Ursprünglich wurde die afghanische Burka nur in der Stadt getragen. Im Dorf war die Verschleierung unüblich. Bevor die radikalislamischen Taliban das Tragen der Burka in Afghanistan allgemein zur Pflicht machten, war blau dort eine eher seltene Stofffarbe. Die ursprünglich teurere blaue Burka wurde für die Afghaninnen unter den Taliban zu einer der wenigen Möglichkeiten, sozialen Stand anzuzeigen. Das wurde bald auch von weniger wohlhabenden Frauen nachgeahmt, weshalb die meisten Burkas jetzt blau gefärbt werden. Dabei gibt es erhebliche Qualitätsunterschiede, die sich auch im Preis ausdrücken. Die besseren Modelle sind aus Baumwolle oder leichter Wolle und kunstvoll bestickt; die billigen schmucklosen Burkas bestehen aus Kunststoffgewebe – für die Frauen bei Hitze eine zusätzliche Tortur.

Nach dem Ende des Taliban-Regimes wurde die Burka-Pflicht aufgehoben. In Afghanistans Hauptstadt Kabul prägen sie schon längst nicht mehr das Straßenbild. Aber fast alle Afghaninnen bedecken zumindest ihr Haar mit einem Tuch odereinem Schleier. Bei den Schulmädchen ist das weite, weiße Kopftuch Teil ihrer Schuluniform. Heute wird die Burka oft von Bettlerinnen getragen; sie verhüllt also auch Armut. In Belgien und Kanada gilt inzwischen ein Burka-Verbot; in Frankreich, Italien und der Schweiz wird es diskutiert. (joe)

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Jean-Charles Fays


Jean-Charles Fays, geboren 1980 im französischen Jonzac, studierte Sportpublizistik in Köln, Paris und West Chester (USA). Während des Studiums sammelte er erste journalistische Erfahrungen bei der Münsterländischen Volkszeitung, der Kölnischen Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Nach dem Volontariat beim Weser-Kurier (2008 bis 2010) in Bremen schrieb er als freier Autor für Weser-Kurier, RP Online und Rheinische Post. Seit dem 1. Januar 2011 Redakteur beim Weser-Kurier.

Mounia Meiborg


Mounia Meiborg, Jahrgang 1984, studierte Kulturwissenschaften mit den Fächern Theater, Literatur und Musik in Hildesheim. Als freie Journalistin schreibt sie Kulturkritiken und Reportagen unter anderem für Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Hannoversche Allgemeine Zeitung und nachtkritik.de. Derzeit besucht sie die Deutsche Journalistenschule in München.
Dokumente
Bremen hinter dem Schleier

erschienen in:
Weser Kurier,
am 11.06.2010

 

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